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Gene Pharming

Medikamente aus dem Stall

20.05.2015  10:20 Uhr

Von Hildegard Tischer / Arzneimittel aus tierischem Gewebe existieren schon lange, beispielsweise Insulin. Die natürlicherweise vorkommenden Substanzen reichen Pharmaforschern aber nicht mehr. Sie verändern das Erbgut von Tieren derart, dass diese produzieren, was Menschen fehlt oder sie heilt.

Gallensaft von Bären, geriebene Anti­lopenhörner, gemahlene Seepferdchen, Tigerhoden: Der Glaube, dass Tieren oder bestimmten Bestandteilen von ihnen heilende Kräfte innewohnen, hat Tradition. 

Doch im Gegensatz zu den volkstümlichen Säften und Pülverchen mit zweifelhafter Wirkung, die beispielsweise in China nach wie vor beliebt sind, gibt es auch von Tieren produzierte Substanzen, deren pharmakologische Wirkung nachgewiesen und anerkannt ist. Man denke etwa an Cortison, das lange Zeit aus der Nebenniere von Rindern gewonnen wurde, oder an Heparin, das nach wie vor aus der Rinderlunge oder dem Schweinedarm stammt.

 

Nachdem das Tier prinzipiell als Medikamentenspender nutzbar gemacht worden war, lag die Überlegung nahe, der Produktion erwünschter Substanzen nachzuhelfen: Das sogenannte Gene Pharming oder Molecular Pharming entstand. Pharming ist eine Zusammensetzung aus Pharma und Farming, der Bauernhof soll also quasi als Pharmalabor fungieren, und zwar, indem dort mithilfe genetischer Veränderungen an Pflanzen oder Tieren Medikamente entstehen.

 

Ziel ist es, in die Erbinformation von Mäusen, Kaninchen oder Rindern menschliche Proteine einzuschleusen, damit die Tiere Eiweißstoffe zur Behandlung menschlicher Erkrankungen produzieren. Um die Substanzen möglichst einfach zu gewinnen, arbeiten die Genforscher darauf hin, dass die Tiere sie in den Milchdrüsen produzieren, sodass sich die Proteine melken lassen. Theoretisch können aber auch Blut, Urin, Speichel oder bei Geflügel Eier die Träger sein.

 

Erste Erfolge


Mit dem berühmten Klonschaf Dolly, das 1996 im Stall des Roslin-Instituts in Schottland auf die Welt kam, war es gelungen, Gene künstlich so stabil im Erbgut eines Tieres zu verankern, dass dieses nicht nur lebens-, sondern auch fortpflanzungsfähig ist. Tracy, ein Schaf aus dem gleichen Stall, war das erste Tier, das für die Medikamentenproduktion genutzt wurde. In seiner Milch befand sich das Eiweiß α-1-Antitrypsin, das die Lunge von Menschen mit einem erblich bedingten Mangel an diesem Protein vor einem Gewebeabbau schützt. Allerdings ist α-1-Antitrypsin als Wirkstoff bisher nicht zugelassen.

 

Bereits auf dem Markt, auch in Europa, sind Ruconest® und ATryn®. Ersteres ist ein rekombinantes Analogon des menschlichen C1-Esterase-Inhibitors und dient der Behandlung von Patienten mit hereditärem Angioödem.

Es stammt aus der Milch transgener Kaninchen, Hersteller ist die niederländische Pharming Group N.V. Kaninchen geben zwar relativ wenig Milch und es mag mühsam erscheinen, sie zu melken, doch sie sind leicht zu halten und vermehren sich rasant. Aufgrund der Seltenheit der Erkrankung werden außerdem nur kleine Mengen an Milch benötigt.

 

Bei ATryn® der US-amerikanischen Firma Revo, früher GTC Biotherapeutics, handelt es sich um einen Gerinnungshemmer. Das zugrundeliegende Protein Antithrombin III wird aus der Milch transgener Ziegen gewonnen, es dient zur Thromboseprophylaxe nach Operationen bei Patienten mit angeborenem Antithrombin-Mangel und wird zusammen mit Heparin verwendet.

 

Tier versus Petrischale

 

Auch wenn zwei marktreife Arzneimittel recht wenig erscheinen, hat Gene Pharming viel Potenzial. Das Fraun­hofer-Institut für Systemtechnik und Innovationsforschung fasste in einem Fortbildungspapier die Vorteile des Pharming folgendermaßen zusammen. Zum einen reichen wenige bis einige tausend Tiere, um den weltweiten Jahresbedarf des menschlichen Eiweißwirkstoffs, den sie produzieren, zu decken, da das gewünschte Produkt in den tierischen Flüssigkeiten um ein Viel­faches konzentrierter vorliegt als in Zellkulturen, die durch ein fermentatives Verfahren genetisch verändert wurden. Für Antithrombin III beispielsweise genügen sechs Kühe, um ein Jahr lang sämtliche Patienten der Erde zu versorgen. Zum anderen geben die Tiere – sind die gewünschten Erbinformationen erst einmal stabil integriert – sie an ihre Nachkommen weiter und halten damit die Produktion des Wirkstoffs von selbst aufrecht. Da der Wirkstoff in den Milchdrüsen produziert wird, lässt er sich durch Melken gewinnen, was zumindest bei größeren Tieren technisch anspruchslos ist und auch die Belastung des Tiers in Grenzen hält.

 

Zudem eignen sich transgene Tiere möglicherweise für die Produktion von komplexen Stoffen, die sich durch herkömmliche Verfahren gar nicht oder nur mit sehr hohem Aufwand herstellen lassen. Auch für Orphan drugs könnte sich Pharming eignen, da nur kleine Mengen benötigt werden.

 

Milch mit Tücken

 

Doch es gibt auch Nachteile: Nur höchstens ein Drittel der Embryonen nimmt die fremden Gensequenzen an, und von diesen entwickeln sich längst nicht alle zu lebensfähigen, gesunden Tieren. Auch wenn diese Hürde genommen ist, ist nicht garantiert, dass die Tiere auch das erwünschte Protein produzieren und in die Milch abgeben: Nur maximal 10 Prozent der transgenen Tiere erfüllen diese Erwartung. Eine weitere Unwägbarkeit liegt in der Vererbung der gewünschten Eigenschaft, denn die üblichen Ver­erbungsgesetze sind bei transgenen Organismen außer Kraft gesetzt. 

So tragen zum Beispiel lediglich 10 von 50 Nachkommen einer transgenen Ziege die veränderte Erb­information, und inwieweit diese 10 Nachkommen sie ihrerseits weitergegeben, lässt sich nicht vorhersagen. Das Vorhaben, beispielsweise α-Glucosidase zur Behandlung von Morbus Pompe mithilfe transgener Kaninchen herzustellen, wurde in Phase II der klinischen Prüfung aufgegeben, da sich Zellkulturen in diesem Fall als vorteilhafter erwiesen. Auch ist nicht bekannt, ob Wechselwirkungen zwischen dem implantierten menschlichen Gen mit tiereigenem Erbgut entstehen, die erst im Laufe der Zeit zutage treten.

 

So einfach wie im Stall ist die Tierhaltung beim Pharming ebenfalls nicht. Es gilt zu verhindern – genauso wie bei genveränderten Pflanzen –, dass sich transgene Tiere mit anderen paaren, da die Folgen nicht absehbar sind, weder für die Tiere noch für die Menschen. Das Fleisch von genveränderten Tieren darf hierzulande beispielsweise nicht auf dem Teller landen. Zudem muss gewährleistet sein, dass die transgenen Tiere absolut gesund sind, da Krankheitserreger in das spätere Medikament gelangen können. Das bedeutet, dass der Stall nicht nur als Labor fungiert, sondern auch so steril ist wie ein Labor – für Kaninchen, Schafe und Rinder sicher keine artgerechte Umgebung. Noch dazu könnte der Aufwand für die Sicherheits- und Hygienemaßnahmen den Kostenvorteil der tierischen Wirkstoffgewinnung zunichtemachen. /

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